Lebensmüde?

2018-09-18 motorrad

Es ist Herbst 2018 und die Saison neigt sich dem Ende entgegen. Eigentlich sollten die meisten Motorradfahrer im Laufe des Jahres einige Kilometer abgespult haben und sich einige Routine angeeignet haben.

Leider habe ich auf Nordhessens Straßen leider anders erleben müssen.

Grüne oder rote Linie?

Kurven schneiden

Meine Hausstrecke ist eine sehr enge Landstraße mit meist blind zu fahrenden Kurven. Aus diesem Grund habe ich mir von Anfang an angewöhnt NIE die Kurve zu schneiden und NIE mit dem dem Kopf in die Gegenfahrbahn zu kommen.

Was ich in dem letzten Tagen auf dieser Strecke sehen durfte hat mich zutiefst schockiert.

Vor mir zwei Harleys. Der vordere Fahrer fuhr eine saubere Linie. Immer auf der eigenen Straßenseite mit einer Bauart bedingt mäßigen Geschwindigkeit. Sein Kollege vor mir hat tatsächlich eine nicht einsehbarer Linkskurve komplett am linken Rand der Gegenfahrbahn gefahren. Es gab technisch keinen Grund dies zu tun. Ich hätte die Kurve bei dieser Geschwindigkeit komplett rechts auf der Linie fahren können.

Wenn uns da ein Einheimischer zügig entgegen gekommen wäre, wärs um den Kollegen geschehen gewesen. So weit links hätte er keine Chance mehr gehabt zu reagieren.

Auf dem Bild sind im Bereich der Kurve vier Leitpfosten zu sehen. Also 4x15 Meter, macht bei 50 Km/h etwa 4,2 Sekunden im Gegenverkehr.

Das war das erste mal das ich nicht überholt haben, sondern rechts ran gefahren bin weil ich nicht mit diesem Kollegen eine Straße teilen wollte.

Ich hoffe das der Kollege den Tag überlebt hat und das er immer Glück hat das ihm keiner entgegen kommt.

Und selbst?

Ich habe mich gefragt wie andere Motorradfahrer mich und meinen Fahrweise wahrnehmen.

Nach 20 Jahren auf dem Motorrad und auch dem ein oder anderen Abflug, ja auch schmerzhafte waren dabei, hat sich eine gewisse Routine und Gelassenheit eingestellt. Blickführung, Bremspunkte und Geschwindigkeit werden automatisiert gewählt. Das ganze läuft dann auch noch ganz entspannt ohne Druck am Lenker ab. So wie man das auf zahlreichen Trainings gelernt und immer wieder wiederholt hat.

Wenn ich jetzt aber mal zurückblicke, kann ich mich an eine Situation vor 10 Jahren erinnern, als mir ein Unbekannter auf seiner Kawa zum Beginn der Saison auf meiner Hausstrecke entgegen kam. Das Knie am Boden, voller Körpereinsatz und freundlich die Hand zum Gruß gehoben.

Meine Reaktion damals: Alter bist du lebensmüde? Die Straße ist kalt und dreckig. Die Saison hat grad begonnen und du heizt so durch mein Revier. Da könnte doch was auf der Straße liegen. Ein Ast zum Beispiel.

Heute muss ich an den Kollegen denken und schmunzeln. Er war halt entspannt. Konnte die Kurve einsehen. Hat halt laufen lassen. Wenn du entspannt bist und keinen Druck am Lenker aufbaust, kannst du auch locker grüßen und eine Hand vom Lenker nehmen. Die Kiste ist durch die Kreiselkräfte stabil.

Und der Ast? Es passiert nichts! Schau den Ast an und du wirst ihn treffen, ignorier ihn und du fährst vorbei. Liegt er doch auf deiner Linie ignorier den verdammten Ast. Deine Maschine zuckt kurz und das wars.

Ob also jemand lebensmüde sein mag liegt im Auge des Betrachters.

Fahrtechniken

Was ich mir im laufe der Jahre angeeignet und durch Trainings vertieft habe möchte ich kurz beschreiben.

Sitzposition

Durch fahren auf der Rennstrecke lernt man Hangoff zu fahren. Auf der Landstraße ist dieser extreme Fahrstil nicht nötig, um die Bewegung aber weiterhin zu verinnerlichen fahre ich einen “halben Hangoff”. Der Oberkörper geht bewusst aus der Mitte und folgt der Blickrichtung. Nur der Arsch bleibt in der Mitte und das Knie bleibt am Tank. Die Oberschenkel machen die ganze Arbeit und nehmen den Druck von den Armen. Der Lenker wird ganz locker geführt. Füße mit dem Ballen auf den Rasten und die Fersen an die Fersenschoner gedrückt um das Motorrad zu spüren.

Position der Hebel

Meine Hebel sind so eingestellt das mein Handgelenk eine Linie zum Hebel bildet und nicht abknickt. Die Weite ist so eingestellt das das erst Fingergelenk auf dem Hebel liegt.

Langsam fahren

Schnell fahren ist einfach, langsam fahren eine Kunst. Ich baue die Übungen aus dem ADAC Basis Training immer wieder auf meinem Weg zur Arbeit ein.

An Kreuzungen den Fuß nicht absetzen. Mit der Fußbremse die Geschwindigkeit regulieren. Kupplung am Schleifpunkt. An der Kreuzung einen kurzen Stop und weiter gehts. Natürlich nur wenn die Kreuzung auch frei ist.

Wenden am Lenkanschlag. Kupplung wieder am Schleifpunkt. Fuß auf der Bremse. Lenker an den Anschlag und das Motorrad im Fahrstiel “drücken” in einem Zug wenden. Dabei den Kopf weit drehen und den Blick auf das Ziel fixieren. Nicht vor das Vorderrad schauen, dabei wird die Fahrt unruhig.

Kurven hinterschneiden.

Wenn man eine Kurve anfährt bleibt man länger als nötig außen und lenkt erst spät ein. Das hat den Vorteil das man weiter in die Kurve rein schauen kann und Abstand zum Gegenverkehr lässt.

Anschaulich erklärt wird dies von Hannes im Interview mit Nils von 1000PS in folgenden Video ab Minute 1:05:00 https://youtu.be/uQ-P3iRYQw4?t=3879

Blicktechnik

Erster Spruch auf jedem Training. Guckst du scheiße fährst du scheiße! Weit in die Kurve rein schauen. Kopf drehen und nicht nur die Augen!

Im Falle eines Schrecks stellt gehen die Augen starr geradeaus und werden aufgerissen. Das bedeutet wir starren das Hindernis das uns erschreckt an. Diese Situation muss sofort abgestellt werden sonst schlagen wir genau da ein wo wir eigentlich nicht hin wollen. Wenn man den Kopf bewusst weit in die Kurve rein dreht, schaut man da hin wo man hin möchte. Das Motorrad folgt dem Blick!

Plan B

Es ist immer gut einen Plan B zu haben und schon drüber nachzudenken wenn man ihn noch garnicht braucht.

Ich fahre hinter Autos immer versetzt und nie mittig. Fährt das Auto weit rechts, fahre ich links. Ich fahre immer so das ich die Augen des Fahrers in einem der Spiegel sehe und vermeide den Toten Winkel.

Wenn ich schon versetzt fahre, erübrigt es sich über die Richtung eines Ausweichmanövers nachzudenken. Das sind wertvolle Millisekunden die ausschlaggebend sein können.

Dreispurige Autobahn! Stauende! Zu schnell! Es gibt fünf Gassen die man zu Flucht nutzen kann und jede ist besser als auf eine stehendes Hindernis aufzufahren. Hauptsache nicht das Hindernis anstarren, sondern die Lücke die man nutzen will. Wir haben beim ADAC in Gründau genau diese Situation geübt. Bei einer Vollbremsung nich eine Lenkimpuls einbringen um 2-3 Meter die Richtung zu ändern. Das geht erstaunlicherweise noch im ABS Regelbereich.

Leben und leben lassen

Immer mal daran denken wie man als Motorradfahrer vom Autofahrer wahrgenommen wird.

  • Wie schnell ist man dran an einem Auto?
  • Konnte mich der Autofahrer sehen?
  • Wie oft scheue ich selbst in den Spiegel ( als Autofahrer )?
  • Fahre ich zu dicht auf? Verunsichere ich den Fahrer vor mir?

Einfach mal zurück stecken und nicht auf das eigene Recht pochen. Wir machen alle mal Fehler und sind dann froh wenn jemand damit gerechnet hat und uns den Raum zum Überleben lässt.